Eine tiefe Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit

Warum Sebastian Kneipp 120 Jahre nach seinem Tod so wichtig ist …

„Es wäre unverantwortlich gewesen von einem gewissenhaften Zeitungsschreiber“, so heißt es in einem Bericht der Frankfurter Zeitung aus dem Jahr 1897, „an Wörishofen vorüber gefahren zu sein, ohne diesem neuesten und eigenartigsten Kurorte einen Besuch abgestattet zu haben.“ Und so machte der Autor den Schlenker.

 

 

Entstanden ist ein Bericht über eine besondere Zeit: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Wörishofen ein Bauerndorf mit einem Dominikanerinnen-Kloster. Doch seit 1855 begann ein Bürger den Ort nachhaltig zu verändern, Sebastian Kneipp. Schon kurze Zeit nach Beginn seines Wirkens kamen jährlich mehr als 4.000 Heilsuchende, um die Wasseranwendungen des Pfarrers zu erleben. 1893 zählte man 33.000 Kurgäste.

 

„Ich war gefasst darauf, manches Interessante und Merkwürdige zu sehen“, schreibt der Autor. „Die Wirklichkeit hat indes meine Erwartungen übertroffen…“ Nach heutigen Maßstäben kaum vorstellbar sind die im Artikel geschilderten Bedingungen, unter denen die Kurgäste nach Wörishofen pilgerten, sich in Bauernstuben einquartieren oder in „noch warmen“ Betten schliefen.

Wörishofen, das erst in den 1920er Jahren zum „Bad“ geadelt werden sollte, war noch ein Kurort im Werden. Noch gab es nur wenige Hotels, mondäne schon gar keine. Aber aus heutiger Sicht betrachtet, war Wörishofen schlicht cool. Es war das Wacken der Jahrhundertwende. Ein Pilgerstätte im doppelten Wortsinne. Ein Bauerndorf, das zur Geburtsstätte einer Bewegung wurde.

Komfort war nicht wichtig. Es zählte vor allem, „nach Kneipp“ behandelt zu werden. Und als der Wasser-Doktor im Jahr 1897 starb, war bereits klar, dass sein Lebenswerk über seinen Tod hinaus Bestand haben würde. Das beschreibt auch der unbekannte Journalist, der sich verblüfft zeigt von der tiefen Sehnsucht der Menschen.

 

Die empfinden wir heute wieder. Das digitale Zeitalter wirkt einerseits so sanft, so ohne jede physische Herausforderung. Andererseits erschöpft es in einem Ausmaß, dem sich die Menschen immer weniger entziehen können. Stress, Burn-Out, Depression. Es sind die Volkskrankheiten der Gegenwart. Und wer sich heute mit Kneipps Lehre befasst, stellt schnell fest, dass diese – 120 Jahre nach dessen Tode – aktueller wirkt denn je.

Bad Wörishofen hat sich längst zu einem eleganten Kurort entwickelt. Und bietet perfekte Möglichkeiten, die heilsame Kraft einer sehr deutschen Spiritualität zu erfahren. Etwa im 5-Sterne-Hotel „Fontenay“. Früh morgens stehen wir vor unserer Therapeutin und lassen uns die ersten Wassergüsse verabreichen. Das frühe Aufstehen hat Überwindung gekostet. Doch die Anwendung entlohnt. Und das Gefühl, einmal nachhaltig raus zu sein – aus dem Hamsterrad der Digitalisierung…

 

Info: Mehr über die deutsche Spiritualität erfährt man im Sebastian Kneipp-Museum

Fotos: Susanne Baade, Text: Dirk Lehmann 

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